Über die Rolle von Nachbarschaftshäusern, Bürgerhäusern und soziokulturellen Zentren in der Entwicklung von Quartieren…
Unser Verhältnis zur Umwelt hängt von den sozialen und kulturellen Verhältnissen innerhalb der Gesellschaft ab. Das lernte ich bereits in meiner Kindheit auf dem Land in Italien. In der Dorfgemeinschaft verdienten die Menschen in den 1970ern zwar nicht viel, aber zum Überleben brauchten sie ohnehin wenig Geld. Die künstlichen Bedürfnisse hielten sich noch in Grenzen, dafür gab es mehr Zeit, um menschliche Beziehungen zu pflegen. Vieles wurde in der Verwandtschaft und in der Nachbarschaft geteilt. Da, wo die Menschen miteinander teilen, ist der Umweltverbrauch niedriger. Deshalb braucht Nachhaltigkeit mehr Gemeinwesen statt Privatwesen. Meine Großeltern waren Kleinbauern, wir ernährten uns zum größten Teil aus Eigenproduktion. Wer Nahrungsmittel für die eigene Familie anbaut, verwendet schon deshalb deutlich weniger Chemie. Eingekauft wurde beim Nachbarn, der Einzelhandel und das Handwerk waren noch sehr verbreitet. Wenn die Marktakteure eine persönliche Beziehung zueinander pflegen, dann ändert schon dies den Charakter der Wirtschaft. Traditionelle Wirtschaftsformen sind meistens nicht profitorientiert, sondern basieren auf den Prinzipien der Reziprozität und der Redistribution (Polanyi 1978).
Dann kamen die Industrialisierung und der sogenannte Fortschritt. Mit der Zerstörung der lokalen Kultur entstanden ökologische und neue soziale Probleme. Die verstärkte Verwendung der Chemie in der Landwirtschaft führte zu steigenden Krebsraten. Wenn eine Kultur die Gemeinschaft zusammenhält, dann führt ihr Abbau zur sozialen Desintegration (Galtung 1995). Wo früher Solidarität war, herrschten nun Vereinzelung und Anonymität.
Heute verstehen wir Nachhaltigkeit vor allem als Zukunftsaufgabe und technologische Innovation. Ich habe jedoch viel Nachhaltigkeit in den lokalen Traditionen erfahren. Es waren meine Erlebnisse in Italien, die später mein Interesse für Quartiersentwicklung weckten. Jedes Quartier ist ein Planet für sich, deshalb gibt es keinen Königsweg in die Quartiers- und Nachbarschaftsarbeit. Wenn es darum geht, Transformationsprozesse in Quartieren zu gestalten und zu begleiten, dann bietet die ethnologische Aktionsforschung die beste Methode. Der erste Schritt ist die Exploration, um die Eigenart und den Eigensinn des Quartiers zu erfassen. Dabei ist das Alltagswissen der Menschen vor Ort entscheidend: In ihrer eigenen Lebenswelt sind sie die Expert:innen.
Trotz Unterschiede gibt es Konstanten in der Entwicklung der Quartiere. Die Erzählungen der älteren Bewohner:innen klingen oft ähnlich und erinnern mich an meine früheren Erfahrungen in Italien.
»Fortschritt« im Quartier
Die Quartiersentwicklung der letzten Jahrzehnte zeichnet sich vielerorts durch die folgenden Merkmale aus:
- Auflösung von Gemeinschaftsstrukturen. Man lebt inzwischen eher nebeneinander als miteinander.
- Räumliche Entwurzelung. Die alte Bausubstanz ist vielerorts zerstört worden, um einer sterilen Architektur Platz zu machen. Dadurch sind die Orte austauschbar geworden. Weil sich die Lebensgeschichte der Menschen in Räumen abspielt und sie dazu eine emotionale Beziehung aufbauen, kappt ihr Verschwinden die Bindung zum Ort. Ohne emotionale Beziehung konsumieren die Menschen die Stadt und übernehmen seltener Verantwortung dafür. In der Globalisierung ist der Wohnort immer öfter nur eine biografische Zwischenstation. Im Wettbewerb auf dem Weltmarkt wird von den Individuen Flexibilität gefordert (Sennett 1999).
- Internationale Fremdversorgung statt regionaler Selbstversorgung. Die Bewohner:innen kaufen bei REWE und Aldi, nicht mehr auf dem Wochenmarkt und beim Nachbarn. Die internationalen Handelsketten haben den Einzelhandel zunehmend ersetzt. Weil Reparaturwerkstätten abhandengekommen sind, werden verbrauchte Dinge einfach weggeworfen und neu gekauft.
- Digitale statt analoger Begegnungsräume. Bäckereien und Kneipen unter Familienführung dienten lange Zeit als Treffpunkt für die Nachbarschaft, entsprechend hat das Aussterben des Einzelhandels in Quartieren wie Bremen-Woltmershausen zu einer Auflösung der Gemeinschaftsstrukturen beigetragen. In der autogerechten Stadt dient der öffentliche Raum nicht mehr als Aufenthaltsraum, sondern als Verkehrsraum. Die Abnahme analoger Begegnungsräume geht Hand in Hand mit der Ausbreitung digitaler Medienräume. Sie machen die Menschen häuslicher: Warum ins Kino gehen, wenn man Netflix zu Hause schauen kann? Warum einkaufen gehen, wenn Amazon alles nach Hause bringt? Warum sich treffen, wenn man auch über Facebook oder Whatsapp kommunizieren kann?
- Liberalisierung der Immobilienwirtschaft. In der Quartiersentwicklung zählt die wirtschaftliche Rentabilität inzwischen mehr als die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung. Während Nachbarschaften nicht einmal die eigene Straße eigenständig verschönern dürfen, ohne sich mit Ordnungsamt und Verkehrsamt auseinandersetzen zu müssen, genießen Investoren viel Handlungsfreiheit. Eine echte Stadtplanung findet kaum statt: Erst setzen die Investoren ihre Großprojekte um, dann kümmern sich die öffentlichen Institutionen um die fehlende Infrastruktur. Urban-Gardening-Projekte gibt es nur als Zwischennutzung bis der nächste Investor kommt.
- Sozioökonomische Entmischung der Quartiere. Gentrifizierungsprozesse sind Segregationsprozesse. Wohlhabende Menschen leben immer mehr unter sich, ärmere genauso. In den Quartieren nimmt die sozioökonomische Mischung ab, während die menschliche Mischung zunimmt, denn die neoliberale Globalisierung bewegt die wohlhabenden wie die ärmeren Schichten weltweit. Was die Bewegungsfreiheit der einen ist, ist der Bewegungszwang der anderen.
Gegen diese Entwicklung in den Quartieren stellen die Nachbarschaftshäuser, die Bürgerhäuser und die soziokulturellen Zentren Orte des Widerstandes dar.
Orte des Widerstandes
Gerade in dem heutigen Kontext üben solche Räume eine wichtige Funktion aus:
- Durch ihre Arbeit halten sie eine Gesellschaft zusammen, dort, wo sie sonst auseinandergeht oder auseinanderzugehen droht. Bürgerhäuser dienen den urbanen Gemeinschaften wie die Kirchen den traditionellen Dorfgemeinschaften, jedoch mit einem wichtigen Unterschied: Im ersten Fall ist es egal, an welchen Gott die Menschen glauben oder ob sie überhaupt an Gott glauben.
- In Nachbarschaftshäusern und soziokulturelle Zentren kann man lernen, wie weltoffene Gemeinschaft funktionieren kann. Ein wesentlicher Unterschied zwischen meiner alten Dorfgemeinschaft und den urbanen Quartieren ist die menschliche Vielfalt. Diese Vielfalt ist eine Chance und eine Herausforderung zugleich. Warum eine Chance? Ich habe auch die Nachteile der traditionellen, homogenen Dorfgemeinschaft erfahren: Man war nur solange Teil davon, wie man sich konform verhielt. Die Entfaltung von Individualität wurde nicht unbedingt gefördert, deshalb suchte ich irgendwann die Emanzipation in der Großstadt. In einer weltoffenen Gemeinschaft wird die Andersartigkeit wertgeschätzt statt unterdrückt. Aber die Vielfalt ist auch eine Herausforderung. In den Quartieren ist die räumliche Nähe nicht automatisch soziale Nähe. Auch Nachbarschaftshäuser und soziokulturelle Zentren schaffen es nicht immer, ein Ort für alle und von allen zu sein. Beim Begriff »Inklusion« richtet sich die Aufmerksamkeit meisten nach unten (bildungsferne Schichten oder Menschen mit Migrationshintergrund). Die oberen Schichten lassen sich jedoch nicht unbedingt leichter beteiligen: Wer über ökonomisches Kapital verfügt, benötigt nicht unbedingt Nachbarschaft. In der gemeinsamen Stadt kann man die Benachteiligung der einen nicht überwinden, ohne die Privilegien der anderen infrage zu stellen. Nachbarschaftsarbeit ist immer Beziehungsarbeit.
- Bürgerhäuser sind Ausdruck einer Kultur des Gemeinwesens, sprich eines »Homo solidaricus« (Harsvik/Skjerve 2021), der zur Kooperation fähig ist. In den Nachbarschaftshäusern wird eine Ökonomie gefördert, die ganz ohne Geld funktioniert, Marcel Mauss nannte sie die »Schenkökonomie«, Robert Putnam »Sozialkapital«. Dabei ersetzt das Vertrauen den Euro als Währung. Vertrauen kann sich in den Räumen der Social Media nicht wirklich bilden, deshalb braucht unsere Gesellschaft analoge Begegnungsräume für die persönliche Interaktion.
- Vor allem soziokulturelle Zentren bieten Freiraum für Alternativen. In den Städten hat die Soziokultur in den 1970ern und 1980ern alte Bausubstanz vor dem Abriss gerettet. Zum Beispiel in Ahlen, wo die alte Schuhfabrik einem Parkhaus weichen sollte. Um den Plan zu verhindern, wurde das Gebäude besetzt und in einen Ort der freien Kunst und der Begegnung transformiert. So hat die Soziokultur vorgemacht, wie privates und öffentliches Eigentum in Gemeingut umgewandelt werden kann. Räume als Gemeingut sind ein wichtiges Identifikationselement (Totem) in der Vielfalt. Zu Räumen, die selbsteingerichtet und selbstverwaltet werden, bauen die Menschen eine stärkere Beziehung auf als zu Räumen, die oben geplant und vorgegeben werden. Die Identifikation mit dem Raum ist eine wichtige Voraussetzung der Partizipation. Durch Nachbarschaftshäuser, Bürgerhäuser und soziokulturelle Zentren pflegt die Bewohnerschaft eine Beziehung zum eigenen Sozialraum.
- Bürgerhäuser sind Orte der gelebten Demokratie. Hier können die Bürger:innen von Objekten zu Subjekten der Politik werden – und die Quartiersentwicklung stärker mitgestalten statt sie über sich ergehen zu lassen. Während in der Modernisierung die Quartiere auf eine Planungseinheit und die Stadtplanung auf eine technische Aufgabe reduziert werden, hat das Quartier als Sozialraum keine geometrischen Grenzen: Was das Quartier ist, sollten seine Nutzer:innen bestimmen.
Aus diesen Gründen braucht eine Gesellschaft, die nachhaltig sein will, deutlich mehr Nachbarschaftshäuser, Bürgerhäuser und soziokulturelle Zentren. Weil der urbane Raum inzwischen fast komplett rationalisiert und verplant worden ist, sind heute Raumöffner wichtiger als Raumbesetzer. Räume können als Gemeingut erlebt und behandelt werden, wenn ihre Nutzer:innen nicht nur Zielgruppe und Publikum bleiben, sondern in den Eigentums- und Organisationsstrukturen beteiligt werden. In den Räumen der Bürgerhäuser können sich jene neuen Allianzen bilden, die eine Transformation zur Nachhaltigkeit benötigt. Bündnisse zwischen Nachbarschaften, sozialen Bewegungen, Wissenschaft und Kultur können in den Quartieren dafür sorgen, dass Gentrifizierungsprozesse verhindert werden und ein gutes Leben möglich wird, das nicht auf Kosten anderer geht. Die nötigen Zutaten und Energiequellen für eine Transformation in Richtung Nachhaltigkeit sind meistens schon im Lokalen vorhanden. Es braucht nur die richtigen Katalysatoren und Brückenbauer:innen, um sie neu zu mischen und zu aktivieren.
© Dr. Davide Brocchi, 2022
Quellenverzeichnis
- Galtung, Johan (1995): On the social Costs of Modernization. Social Disintegration, Atomie/Anomie and Social Development. Geneva: United Nations Research Institute for social Development (UNRISD).
- Harsvik, Wegard; Skjerve, Ingvar (2021): Homo Solidaricus. Berlin: Ch. Links.
- Polanyi, Karl (1978): The Great Transformation. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
- Sennett, Richard (1999): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berlin Verlag.
Zum Thema
- Neuartige Rituale für die Transformation
- Mehr urbane Wildnis wagen
- Prinzipien der partizipationsorientierten Quartiersarbeit
- Buch »Urbane Transformation. Zum guten Leben in der eigenen Stadt«
- Buch »Große Transformation im Quartier. Wie aus gelebter Demokratie Nachhaltigkeit wird«
- Aufsatz »Die Große Transformation der Stadt. Gelebte Demokratie als Motor sozial-ökologischen Wandels«. In: EthikJournal 7. Jg. (2021) Ausgabe 1.
Bild: Nachbarschaftshaus Helene Kaisen, Bremen. Lektorat: Annette Schwindt
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