Das Lokale im Spannungsfeld der Transformationen. Hier wird ein Teil des Aufsatzes veröffentlicht, der in der Zeitschrift »Forum Stadt« erschienen ist.
Nachhaltigkeit ist die größte Herausforderung unseres Jahrhunderts. Auch wenn wir von Klimakrise sprechen, ist dies jedoch kein Problem des Klimas, sondern der innergesellschaftlichen Verhältnisse. So lautet die zentrale Frage der Nachhaltigkeit: Wie ist ein friedliches Zusammenleben in der Vielfalt auf einem begrenzten Planeten möglich? Diese Frage stellt sich nicht nur auf globaler Ebene, sondern auch innerhalb von Städten und Gemeinden, Quartieren und Ortsteilen.
Im Umgang mit der Umwelt macht es einen großen Unterschied, ob ein »Homo oeconomicus« oder ein »Homo solidaricus« am Werk ist. Da, wo Menschen kooperieren und miteinander teilen, ist der Naturverbrauch niedriger. Anders ist es dort, wo Menschen um Status konkurrieren. So können wir sowohl mit dem Fahrrad von A nach B fahren als auch mit der Straßenbahn, doch manche Menschen bevorzugen das Auto oder gar einen teuren SUV, weil er einen höheren sozialen Status ausdrückt. Von der Form menschlicher Beziehungen hängt auch der Charakter der Ökonomie ab. In traditionellen Dorfgemeinschaften in Italien pflegten Produzenten, Händler und Konsumenten bis in die 1970er-Jahre hinein ein persönliches Verhältnis zueinander. Wenn Landwirte ihre Verbraucher persönlich kennen, dann handeln sie in der Regel schon deshalb verantwortlicher und verwenden weniger Chemie. In einer neoliberalen, globalisierten Wirtschaft herrscht hingegen Anonymität. Durch die räumlichen Distanzen entsteht weder Empathie noch Verantwortungsbewusstsein. Hier orientiert sich der Handel an Profitmaximierung und nicht an Reziprozität und Redistribution, so wie es in vielen indigenen Kulturen üblich ist. Was lernen wir daraus? Wenn wir die Klimakrise überwinden wollen, dann reichen Elektroautos und Windräder dafür nicht aus: Wir müssen die sozialen und kulturellen Verhältnisse innerhalb der Gesellschaft ändern. Dabei beginnt Nachhaltigkeit mit der Umwandlung sozialer Beziehungen. Sie braucht mehr Gemeinwesen statt Privatwesen, mehr Kooperation statt Wettbewerb, ein »realistisches Menschenbild« anstelle des »Homo oeconomicus«. Damit können und sollten wir im Lokalen beginnen, weil die räumliche Nähe die soziale Interaktion zwischen den Akteuren erleichtert – und dadurch die Bildung und Pflege von Vertrauen. In urbanen Quartieren und in ländlichen Ortsteilen kann die Frage der Nachhaltigkeit als Frage des Zusammenlebens gestellt werden.
Quartiere und Ortsteile bilden netzwerkartige Systeme, doch darin wirken nicht nur menschliche Wesen, sondern auch »Dinge« (B. Latour). So sind Räume und materielle Infrastrukturen keine passiven Objekte: Sie prägen das Zusammenleben und beeinflussen das Verhalten der Menschen. Winston Churchill paraphrasierend könnte man diese Wechselwirkung so ausdrücken: »Erst gestalten wir unsere Städte und dann gestalten sie uns«. Eine autogerechte und kommerzgerechte Stadt erzieht autogerechte und kommerzgerechte Menschen. Ein nachhaltiges Verhalten kann durch die Infrastruktur also erschwert statt gefördert werden, wie zum Beispiel durch ein System von Vorschriften, das den Autoverkehr gegenüber der bürgerschaftlichen Nutzung bevorzugt behandelt. Kein Wunder, dass die Mobilitätswende in Städten wie Berlin, Köln und Stuttgart kaum vorankommt: Wenn eine Kultur habitualisiert, institutionalisiert und einbetoniert wird, dann hat es der Wandel enorm schwer.
In den letzten Jahrzehnten ist die alte Bausubstanz zum großen Teil durch eine funktionalistische, sterile Architektur ersetzt worden. Dies hat die Beziehung zwischen Menschen und Raum in den Quartieren gekappt. So ist die Identifikation der Bewohnerschaft mit dem eigenen Wohnort verloren gegangen. Die Städte werden immer mehr konsumiert, gleichzeitig hat die politische Partizipation abgenommen (was nicht jeden stört). Die modernisierende Stadtplanung kann zwar Funktionen (Wohnen, Versorgung, Parkplätze…) reproduzieren, für die emotionalen Beziehungen zwischen Mensch und Raum ist sie jedoch blind. An dieser Stelle stellen sich folgende Fragen: Welche Menschenbilder, Gesellschaftsbilder und Naturbilder herrschen in der Stadtplanung und materialisieren sich in der Stadtentwicklung? Wer macht die Stadt für wen?
Diese Fragen sind auch für die Entwicklung von Quartieren und Ortsteilen extrem relevant. Sie bilden ideale Reallabore für individuelle und kollektive Lernprozesse, zum Beispiel zu der Frage, wie das richtige Leben im Falschen möglich sein kann. Aus dem Lokalen heraus könnte unsere Gesellschaft von der einen großen Transformation Abschied nehmen, um in eine andere zu gelangen […].
© Dr. Davide Brocchi – Köln, 2023. Der vollständige Text ist in »Forum Stadt« 4/2023 (S. 319-328) erschienen.
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