»Grüne an die Macht«

Als Student der Politikwissenschaften an der Universität Düsseldorf habe ich im Wintersemester 2000/01 ein Seminar mit dem Titel »Grüne an die Macht« besucht. Veranstaltet wurde es von dem Politikwissenschaftler Ferdinand Müller-Rommel, der seit Anfang der 1990er das neue Phänomen in der europäischen Parteienlandschaft erforschte. Er veröffentlichte die von der Politikwissenschaft benötigte allgemeine Definition für die grünen Parteien. In diesem Beitrag möchte ich an diese Definition erinnern, denn 30 Jahre später stimmt sie nachdenklich.

In den 1970ern gingen die Politikwissenschaften davon aus, dass die westeuropäischen Parteiensysteme »eingefroren« seien, da das Wahlverhalten unter den Bürger:innen jahrzehntelang relativ konstant gewesen war. Während die etablierten Parteien davon profitierten, hatten neue Parteien unter diesen Bedingungen keine realistischen Entstehungs- und Überlebenschancen.

Doch dann entstanden in vielen europäischen Ländern neue Parteien und Wahllisten, die sich als »grün«, »ökologisch« oder »alternativ« bezeichneten. Bei den Europawahlen 1979 kandidierten sie erstmals in fünf Ländern: Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Luxemburg. Zehn Jahre später waren grüne Parteien mit mehr als tausend Abgeordneten in lokalen und regionalen Parlamenten und mit 117 Abgeordneten in elf nationalen Parlamenten vertreten.

So erweckte das neue Phänomen das Interesse der Politikwissenschaften. Es fehlte jedoch an einer allgemeinen Definition, wie sie für vergleichende Untersuchungen benötigt wurde.

Perspektive 1993: Was ist eine grüne Partei?

In seinem Buch »Grüne Parteien in Westeuropa« definierte Müller-Rommel 1993 das neue Phänomen wie folgt.

»Die Gründungsmitglieder der „grünen“, „alternativen“ und „ökologischen“ Parteien sowie der Wahlerlisten setzten sich Anfang der 1980er Jahre mehrheitlich aus basisnahen Bürgerinitiativen zusammen, die gegen die traditionellen Politikkonzepte der etablierten Parteien antraten. Ihnen haben sich viele Anhänger der unterschiedlichen neuen sozialen Bewegungen angeschlossen. Zusammengefasst handelte es sich bei diesen Bewegungen um zwei im wesentlichen unterschiedliche Potentiale mit teilweise unterschiedlichen programmatischen Forderungen:

  • Dem Emanzipationspotential, welches Bürgerrechtsbewegungen, Frauenbewegungen sowie Jugendzentrumbewegungen umfasste und überwiegend von Jugendlichen sowie der „neuen Linken“ unterstützt wurde. Diese Gruppierungen forderten eine grundlegende Reorganisation der sozioökonomischen und politischen Strukturen westlicher Industrienationen.
  • Dem Widerstandspotential, welches sich überwiegend aus den Anhängern der Ökologie- und Friedensbewegung zusammensetzte. Dieses Potential bestand vorwiegend aus links-liberal orientierten Bürgern aber auch aus Konservativen, deren programmatische Akzente in erster Linie gegen konkrete umweltpolitische und friedenspolitische Maßnahmen der etablierten Regierungs- und Oppositionsparteien gerichtet waren.

Während sich das Emanzipationspotential zunächst in „alternativen Wahlerlisten“ organisierte, wurden die meisten grünen Parteien in Westeuropa von den Anhängern des Widerstandspotentials gegründet. Erst Mitte der 1980er Jahre vereinigten sich in vielen westeuropäischen Ländern beide Potentiale organisatorisch in den grünen Parteien.« (Müller-Rommel 1993, S. 16 f.)

Perspektive 1993: Grüne Programmatik in Westeuropa

Grüne Parteien in Westeuropa zeichneten sich damals durch folgende programmatische Gemeinsamkeiten aus:

  • »Ökologie: Vorrangige Betrachtung der Erfordernisse eines Ökosystems anstelle von ausschließlicher ökonomischer Rationalität.
  • Individualismus: Hierzu zählt programmatisch unter anderem das Eintreten für die Liberalisierung der Ehescheidung und der Abtreibung sowie das Eintreten für die Rechte von Minderheiten ebenso wie Forderungen nach autonomer Lebensführung und Toleranz für alternative Lebensstile. Mit Vorbehalt wird auch der Feminismus als besonderer Ausdruck von individueller Selbstverwirklichung verstanden.
  • Direkte Demokratie: Dies bedeutet programmatisch eine dezentralisierte Basisdemokratie, die den Bürgern eine direkte Teilnahme an politischen Entscheidungen ermöglicht.
  • Links: Hiermit ist der programmatische Wunsch nach einer anderen Gesellschaft verbunden, die hierarchische Strukturen ablehnt, mehr Selbstbestimmung fordert und von der Notwendigkeit politischer Eingriffe in das Wirtschaftsleben überzeugt ist, um insbesondere ökologische Politik durchzusetzen.
  • Dritte Welt: Propagierung echter Umverteilung der Ressourcen von Nord nach Süd.
  • Abrüstung: Postulierung einseitiger Abrüstung in und außerhalb der NATO-Staaten«. (ebd., S. 17 f.)

Perspektive 1993: Organisationsstruktur und Aktionsformen

Zwei Merkmale unterschieden damals grüne Parteien von anderen Parteien:

  • »Partizipatorische Parteiorganisation: Hierunter wird eine basisdemokratische, antielitäre Teilhabe der Mitglieder an der innerparteilichen Willensbildung verstanden, wie beispielsweise die Beteiligung einfacher Basismitglieder an möglichst allen politischen Entscheidungen, freier Zugang zu allen Parteigremien, keine Ämterhäufung, Kontrolle der Mandatsträger durch Rotation oder imperatives Mandat, kollektive Führung.
  • Parteiverhalten: Offizielle Unterstützung der Partei an unkonventionellen Protestaktionen, wie beispielsweise Boykotte, Besetzungen und Blockaden«. (ebd., S. 18)

Perspektive 1993: Wählerprofil

Wer wählte Grün in Westeuropa? Aus politikwissenschaftlicher Perspektive kombinierte das grüne Wählerprofil folgende Merkmale:

  • »Postmaterialistisch: […] gemessen über die elektorale Verankerung der Grünen in neuen sozialen Bewegungen.
  • Jung, hochgebildet, Zugehörigkeit zur neuen Mittelschicht: […] Die Wähler der Grünen [weisen] überwiegend diese sozio-demographischen Merkmale auf.
  • Urban: Die Wähler der Grünen sind überwiegend in Großstädten zu finden.
  • Linke ideologische Selbsteinstufung: Die Wähler der Grünen stufen sich „links“ ein, beziehungsweise haben ehemals linke Parteien gewählt«. (ebd.)

Aus heutiger Perspektive

Grüne Parteien kamen in den vergangenen 30 Jahren immer wieder an die Macht, der Weg zu einer gerechten, friedlichen und umweltfreundlichen Gesellschaft ist jedoch noch lang. Die Erfahrung der Macht kommentierte der erste grüne Minister Joschka Fischer in einem Interview von 1985 so: »Das Amt ändert den Menschen schneller als der Mensch das Amt«. Es stellt sich also die Frage, ob die Machtposition (neue) Parteien schneller ändert als die Parteien in der Lage sind, die Machtverhältnisse zu ändern – und wie eine Große Transformation zur Nachhaltigkeit unter diesen Bedingungen überhaupt stattfinden kann.

© Dr. Davide Brocchi, 21.6.2023

Literatur
  • Ferdinand Müller-Rommel (1993): Grüne Parteien in Westeuropa. Opladen: Westdeutscher Verlag.

 

 


Lektorat: Annette Schwindt, Bonn

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