Das Theater als Transformationsraum

In den Jahren 2023 und 2024 begleitete ich einen Transformationsprozess an einem Theater auf der Schwäbischen Alb. Das vom Land Baden-Württemberg geförderte Projekt »Reset, Respekt und Kollaboration« habe ich in einem Bericht mit zentralen Erkenntnissen und Lehren dokumentiert.

1. Einführung

Wie kann ein friedliches Zusammenleben in der Vielfalt auf einem begrenzten Planeten gelingen? Das ist die zentrale Frage des 21. Jahrhunderts. Sie stellt sich auf allen Ebenen der Gesellschaft: international, national oder selbst in der Nachbarschaft. Da jedes Theater eine Gesellschaft im Kleinen darstellt, kann »Weltinnenpolitik« (Weizsäcker 1981) auch hier gelernt werden.

Wie soziale Akteure mit einer Situation oder einem Problem umgehen, wie sie eine gemeinsame Ressource behandeln, hängt von ihrer Beziehung zueinander ab. So macht es einen großen Unterschied im Umgang mit der Umwelt, ob ein Homo oeconomicus oder ein Homo solidaricus am Werk ist; ob Misstrauen oder Vertrauen herrscht; ob man sich auf Augenhöhe begegnet oder nicht. Eine nicht nachhaltige Entwicklung ist meist ein Symptom gestörter Beziehungen. Folglich beginnt Nachhaltigkeit mit einer Veränderung der sozialen Beziehungen. Hier können wir lokal ansetzen: in der eigenen Region, Stadt oder Nachbarschaft – oder eben im Theater. Kunst- und Kultureinrichtungen sind ideale Reallabore, um Zusammenleben in Vielfalt und Transformation zu lernen und zu erproben. Gerade ihre ausgeprägte Kreativität ermöglicht es der Gesellschaft, neue Antworten auf ihre Fragen zu finden und praktisch zu testen.

Nachhaltigkeit erfordert mehr Gemeinwesen als Privatwesen. Die Stärkung der sozialen Kohäsion ist das zentrale Ziel des dreijährigen Projekts Reset, Respekt und Kollaboration. Es begann am 1. März 2022 am Theater Lindenhof und wurde vom Land Baden-Württemberg gefördert. Das Theater wurde 1981 in Melchingen auf der Schwäbischen Alb gegründet. Damals kaufte eine Gruppe theaterbegeisterter junger Menschen das Gasthaus Lindenhof und verwirklichte darin ihren Traum vom eigenen Theater. Im Laufe der Jahre wurde der Lindenhof immer erfolgreicher. Doch Wachstum und zunehmende Professionalisierung führten zu einer Schwächung des inneren Zusammenhalts. Die Ausdifferenzierung der Strukturen und die Ökonomisierung des Betriebs beeinträchtigen häufig die soziale Kohäsion – eine Erfahrung, die auch die Gesellschaft im Zuge der neoliberalen Globalisierung gemacht hat (Nachtwey 2017). Sowohl in der Gesellschaft als auch in Theatern treten jene Spannungsfelder zutage, die Transformationsprozesse prägen – etwa zwischen ökonomischem Kapital (Geld), Sozialkapital (Zusammenhalt) und Kulturkapital (Kreativität und Vielfalt).

Wer gesellschaftliche Transformationsprozesse durch solche Spannungsfelder steuern möchte, muss zunächst im Kleinen lernen, wie dies gelingen kann. So versteht sich das Theater Lindenhof als ein »permanentes Transformationsprojekt«, denn »wir waren von Anfang an immer Veränderungen ausgesetzt«, erklärt Intendant Stefan Hallmayer. Wie kann also soziale Kohäsion in einem gesellschaftlichen Kontext gestärkt werden, in dem soziale Ungleichheit und Wettbewerb zugenommen haben? Es gibt keinen Königsweg in die Transformation, da sich jeder Ort durch eine Eigenart auszeichnet. In unserer Gesellschaft dominiert jedoch das Entwicklungsparadigma der Modernisierung, das sich an standardisierten Modellen orientiert und die Singularität von Menschen und Orten eher als Hindernis betrachtet. Demgegenüber ist eine Transformation dann nachhaltig, wenn sie der Eigenart gerecht wird und diese als Ressource begreift. Der erste Schritt besteht daher nicht in der Planung von Strategien und Maßnahmen, sondern in der Exploration, um die spezifischen Gegebenheiten des Ortes zu verstehen. So begann auch das Projekt Reset, Respekt und Kollaboration im Jahr 2023. Dr. Davide Brocchi, ein Sozialwissenschaftler und systemischer Supervisor aus Köln, kam zum Theater Lindenhof, um den Transformationsprozess als Facilitator zu begleiten. Er brachte keine vorgefertigten Konzepte mit, sondern näherte sich dem Theater zunächst wie ein »Alien«, der auf einem neuen »Planeten« landet und erst verstehen muss, wie dieser tickt. Um sich zu orientieren, war er auf das Wissen seiner »Bewohner:innen« angewiesen, denn wer an einem Ort lebt und arbeitet, ist der eigentliche Experte für die lokale Eigenart. So führte Brocchi 23 Einzelgespräche mit Theatermitarbeiter:innen – und erhielt dabei jeweils eine andere Perspektive auf den gemeinsamen »Planeten«.

Der Verlauf des Transformationsprozesses im Theater Lindenhof im Jahr 2023 wurde im darauffolgenden Jahr in einem Projektbericht dokumentiert. Die zentralen Aspekte und Erkenntnisse daraus werden im nächsten Abschnitt zusammengefasst. Anfang 2024 äußerte die Belegschaft des Theaters Lindenhof den Wunsch, die Zusammenarbeit mit Davide Brocchi fortzusetzen, da zentrale Themen und Fragen, die sich im Prozess herauskristallisiert hatten, eine vertiefende Auseinandersetzung erforderten. Der vorliegende Projektbericht fasst zusammen, wie der Transformationsprozess 2024 verlief und welche Ergebnisse und Erkenntnisse daraus hervorgingen.

© Dr. Davide Brocchi – Köln, 13.12.2025

 

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