In modernisierten Quartieren leben die Menschen eher nebeneinander als miteinander. Wie kann man es ändern? Bei einer partizipierten Quartiersentwicklung sind fünf Prinzipien besonders wichtig.
1. Beziehung kommt vor Inhalt
Es macht wenig Sinn zuerst eine Zukunftswerkstatt zur Quartiersentwicklung zu organisieren, wenn sich nur wenige mit diesem Sozialraum identifizieren. Erst muss Vertrauen entstehen. Vertrauen geht nicht über digitale Kommunikation, sondern benötigt die Face-to-face-Kommunikation. So müssen im Vorfeld Gespräche mit den wichtigsten Multiplikator:innen im Quartier geführt werden. Dabei können weitere Menschen empfohlen werden, die eine gewisse Reputation im Quartier genießen. Indem die vertrauten Kanäle verfolgt werden, entsteht die Basis für ein relativ breites Netzwerk. Der Prozess muss von Beginn an so gestaltet werden, dass sich jeder darin möglichst »heimisch« fühlt. Dort, wo es soziale Ungleichheit herrscht, braucht es einen sozialen Ausgleich, denn Teilhabe setzt Augenhöhe voraus. In manchen Kontexten kann ein lockeres Treffen bei einem Bier einen besseren Anfang darstellen als ein professionell durchgeführter Workshop.
2. Die Vielfalt sollte in der Keimzelle selbst vertreten sein
Die Vielfalt einer heterogenen Bevölkerung lässt sich am besten durch Vielfalt ansprechen und aktivieren. Es reicht nicht, sich die Vielfalt als Publikum zu wünschen. Wenn eine Kirche die Nachbarschaft einlädt, dann fühlen sich vor allem kircheninteressierte Menschen angesprochen. Wenn eine Umweltinitiative die Bevölkerung einlädt, kommen vor allem umweltinteressierte Menschen. Deshalb braucht es neue Allianzen im Quartier (zwischen Kirche, Umweltinitiative, Bürgerhaus, Seniorenzentrum, Jugendzentrum, Schule, Kita, Theater, usw.), um eine bunte Nachbarschaft anzusprechen und zu aktivieren. Durch ein Treffen der Multiplikator:innen kann ein Grundstein für eine solche Allianz gelegt werden. Die Vielfalt kann sich entfalten, wenn alle gleichberechtigt sind und das Netzwerk kein echtes Zentrum hat. Neben Vertreter:innen von Organisationen und Initiativen, die vor allem auf sich selbst fokussiert sind, braucht es auch Grenzgänger:innen und Brückenbauer:innen.
3. Das Medium ist die Botschaft
Es macht einen großen Unterschied, ob man die Bevölkerung mit einem Plakat oder einem Mailing einlädt, oder ob jeder persönlich eingeladen wird. Für den Erfolg der Partizipation macht es einen großen Unterschied, ob man sich kennt oder nicht. An einem »Workshop« nehmen andere Personen teil als an einem »Fest«. Deshalb braucht jedes Quartier auch »neue Rituale«, eigene Formate, die sich inklusiv auswirken. Dabei ist auch die Sprache wichtig.
4. Echte Partizipation lässt sich weder planen noch erzwingen
Weil Menschen keine Maschinen sind, sondern lebendig. Jedes Quartier hat eigene Zeiten, um bestimmte Ziele zu erreichen. Die Ziele können nicht von außen kommen, sondern müssen im Quartier selbst definiert bzw. mitbestimmt werden.
5. Das Quartier als Wohngemeinschaft gestalten
Partizipation heißt nicht, dass alle immer das Gleiche tun und ständig zusammen sein müssen. Es ist richtig, dass ältere Menschen eigene Treffpunkte haben und jüngere Menschen andere. Es ist richtig, dass die muslimische Gemeinschaft, die evangelische Gemeinschaft und die schwule Community jeweils eigene Rituale im Quartier haben und diese auch getrennt pflegen dürfen. In jeder Beziehung ist Vertrauen genau deswegen wichtig, um sich sein lassen zu können. Eine gute Nachbarschaft definiert die eigene Einheit nicht durch Homogenität, sondern durch Weltoffenheit. Das »Quartier als Wohngemeinschaft« ist ein gutes Modell, um Individualität und Gemeinschaft, Pluralität und Gemeinsamkeit zu verbinden. In einer Wohngemeinschaft gibt es Privaträume, in denen jeder Bewohner sein eigenes Ding macht und die eigenen Freunde trifft. Aber eine gute Wohngemeinschaft braucht auch ein gemeinsames Wohn- und Esszimmer, in dem inklusive Rituale erlebt werden. Räume als Gemeingut, die gemeinsam verwaltet und eingerichtet werden, wirken als Identifikationselement in der Vielfalt (Totem). Auch Privaträume und öffentliche Räume können in »nachbarschaftliche Wohnzimmer« umgewandelt werden. Unter anderem Urban-Gardening-Projekte zeigen, wie inklusiv Agoren sein können und dabei die Natur selbst als politisches Subjekt einbezogen werden kann. Solche Räume sollten überall Teil der lokalen Infrastruktur sein – und nicht nur als Zwischennutzung zur Verfügung stehen.
Diese fünf Prinzipien sind auch für die Arbeiten in ländlichen Ortsteilen und Dörfern relevant.
© Dr. Davide Brocchi, 2022
Zum Thema
- Neuartige Rituale für die Transformation
- Nachbarschaftshäuser und Bürgerzentren: Orte des Widerstandes
- Mehr urbane Wildnis wagen
- Große Transformation im Quartier
- Buch »Urbane Transformation. Zum guten Leben in der eigenen Stadt«. Bad Homburg: VAS-Verlag, 2017
Bild: Bremen-Woltmershausen – © Davide Brocchi, 2022. Lektorat: Annette Schwindt
Neueste Kommentare