Heute leben wir in einer Zeit der »multiplen Krise« [Ulrich Brand]: Klimakrise, Finanzkrise, Krise der Demokratie, Flüchtlingskrise… Und das Konzept der Nachhaltigkeit ist ursprünglich ein »Kind der Krise« [Günther Bachmann]. Nachhaltigkeit bedeutet die Kompetenz, Krisen handzuhaben, vorzubeugen oder erfolgreich zu überwinden – die Krisen als Chance zu nutzen. In diesem Sinne ist Nachhaltigkeit ein Synonym von Resilienz, das heißt von Krisenresistenz und Widerstandsfähigkeit. Welche Rolle kann dabei die Ästhetik spielen?
Der Begriff kommt aus dem altgriechischen aísthēsis, das »Wahrnehmung«, »Empfindung« bedeutet. Der Philosoph Wolfgang Welsch setzt diesem Begriff jenen der »Anästhetik« entgegen, der nicht zufällig wie Anästhesie klingt: Dabei wird die sinnliche Wahrnehmung abgeschaltet und die Empfindsamkeit gegenüber der Umwelt geht verloren, unter anderem um sich vor der Erfahrung des »Schmerzes« zu schützen. Wir können Krisen als Ergebnis eines gesellschaftlichen »anästhetischen Zustandes« verstehen: Wenn wir unsere ökologische, soziale und innere »Umwelt« nicht mehr wahrnehmen, weil wir zum Beispiel wie Autisten an mathematischen Wirtschaftsmodellen und Dogmen wie Wirtschaftswachstum festhalten, an alten Überzeugen, Privilegien und Gewohnheiten, dann kommt es zur Krise. Nicht nur die freie Kunst, sondern auch eine freie kritische Presse und eine kritische Wissenschaft sind mit einem gesellschaftlichen Sinnenorgan vergleichbar. Sie helfen uns, den Kontakt zur »Wirklichkeit« aufrechtzuerhalten und damit schwere Krisen vorzubeugen. Gerade in solchen Zeiten brauchen wir deshalb ein Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit: Um gesunde gesellschaftliche Sinnorgane zu fördern, die die sichtbare wie unsichtbare Mauern der Wohlstandsinseln durchlöchern und unsere Wahrnehmungshorizonten erweitern. Je breiter die Wahrnehmungshorizonten sind, desto nachhaltiger die Entscheidungen einer Gesellschaft.
© Davide Brocchi, 2017.
Weitere Dokumente
- Weitere Stellungnahmen zur Initiative »Fonds für Ästhetik und Nachhaltigkeit« von Adrienne Goehler.
- Aufsatz »Nachhaltigkeit als kulturelle Herausforderung«.
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