Der Philosoph hinterlässt eine Zukunftsprognose für die kommenden 40 Jahre. Dieser Brief geht an sein Enkelkind Lilo, das 2020 geboren wurde.
»Was wird in 40 Jahren sein? Ich bin kein Hellseher. Deine ersten 20 Jahre werden hart sein. Du solltest Dich gut darauf vorbereiten. Du könntest vielleicht Geochemie oder Ökologie studieren. Denn wir reagieren unglaublich langsam auf die aktuelle Situation. Daran sind die vorherigen Generationen schuld, vor allem meine Generation. Wir reagieren sehr langsam auf die veränderten Lebensbedingungen. Es geht heute nicht mehr um Produktion, sondern um die Bewohnbarkeit der Erde. Und da wir so langsam sind, wird die Umstellung Zeit brauchen. Deine Generation wird bezahlen müssen für die Untätigkeit der vorherigen Generationen. Das heißt, sie wird leiden müssen unter den von den Naturwissenschaften angekündigten Katastrophen.
Achte darauf, dass Du ausgestattet bist mit allen notwendigen therapeutischen Mitteln, um die Ökoangst 20 Jahre lang aushalten zu können. Meine Generation muss ihre Kinder und Enkelkinder mit den richtigen therapeutischen Mitteln ausstatten, damit Ihr nicht in die Verzweiflung stürzt.
Doch in 40 Jahren wird es wohl wieder besser sein. Ich denke, das kann man an der Abfolge der Generationen erkennen […]. In den darauffolgenden 20 Jahren werden die Menschen wohl erkannt haben, wo sie leben. Sie werden endlich gelandet sein. Die große Anzahl an Veränderungen und Katastrophen der 20 vorausgegangenen Jahre und der heutigen Zeit, werden endlich verarbeitet werden können. Es wird die passenden politischen Institutionen geben, die juristischen Definitionen, die passenden Künste, Wissenschaften und wohl auch veränderte wirtschaftliche Bedingungen, die es ermöglichen, mit der Situation klarzukommen.
Weder Dein Großvater noch der Philosoph ist dazu da, das Ende der Welt anzukündigen. 20 Jahre lang wird es hart sein, doch die nächsten 20 Jahre wird es wieder besser werden. Wenn ich Dich also in 40 Jahren wieder treffen würde, gehe ich davon aus, dass der Prozess der Zivilisation, der heute ausgesetzt ist, wieder in Bewegung sein wird. Und man wird in der Geschichte zurückblicken auf diese Zeit der Unkenntnis und der Verweigerung gegenüber der ökologischen Lage, in die wir uns gebracht haben. Auf die Zeit, die ich die Parenthese der Moderne nenne. Und man wird es merkwürdig finden, etwa so, wie die römischen Papisten des 13. Jahrhunderts. Man wird es als etwas Eigenartiges wahrnehmen. Das war zur damaligen Zeit zwar wichtig und es hat Großes hervorgebracht, doch jetzt ist es vorbei.
Das wäre das Beste, was ich Dir wünsche.«
Quelle: Gespräche mit Bruno Latour, Teil 12/12, ARTE 2021.
Transkription: Davide Brocchi, 2023
Bild: ARTE
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