Weitere 18 Jahre Kohleverbrennung in Deutschland, per Gesetz

Mit diesem »Kohleausstieg« ist Deutschland alles andere als ein Vorreiter in Sachen Klimaschutz.

Seit mehr als 200 Jahren wird Kohle in Deutschland verbrannt, nun sollen weitere 18 Jahre dazukommen: Das haben der Bundestag und der Bundesrat beschlossen. Nach Jahren des Stillstands ist die Entscheidung zwar ein Schritt nach vorne, doch die Wissenschaftler und die Umweltverbände halten vor allem das späte endgültige Ausstiegsdatum für nicht kompatibel mit dem Pariser Klimaabkommen. »Deutschland will bis 2038 Kohle verbrennen? Das ist absolut absurd«, kritisierte die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg den Kompromiss der Kohlekommission. In der Europäischen Union haben bereits 16 Länder die Absicht geäußert, aus der Kohle aussteigen zu wollen. Belgien, Österreich und Schweden haben das Ziel bereits erreicht, Spanien hat gerade die Hälfte seiner Kohlekraftwerke geschlossen und wird bis 2025 aus der Kohle komplett aussteigen, die anderen Länder (u. a. Großbritannien, Frankreich, Italien, Ungarn, Dänemark) wollen vor 2030 kohlefrei sein. Im Vergleich lässt sich Deutschland also viel Zeit.

Kohlenausstieg im Europavergleich

2016: Belgien
2020: Schweden, Österreich
2022: Frankreich
2023: Slowakei, Portugal
2024: Großbritannien
2025: Italien, Irland, Spanien
2028: Griechenland
2029: Finnland, Niederlande
2030: Ungarn, Dänemark
2038: Deutschland

Quelle: Europe Beyond Coal/Handelsblatt

Natürlich gestaltet sich die Herausforderung eines Kohlenausstiegs nicht überall gleich. In Frankreich wurden bisher nur 3,5 Prozent der Primärenergie-Versorgung mit Kohle gedeckt, 43 Prozent mit Atomkraft (Daten 2016). Deutschland hat hingegen den Atomausstieg fast vollzogen, mit Kohle werden hier 18 Prozent des Primärverbrauchs und fast 30 Prozent der Stromversorgung gedeckt (Daten 2019). Seit der Industriellen Revolution ist die deutsche Wirtschaft mit dem schmutzigen Energieträger besonders verbunden, gerade dies führt zu ihrer besonderen Verantwortung für den Klimawandel. Die Concordia University, Canada, veröffentlichte 2014 eine Studie mit einer 200 Jahres-Bilanz der Treibhausemissionen weltweit. In der Rangliste der Klimasünder-Staaten lag Deutschland auf Platz 6, nach pro Kopf-Emissionen auf Platz 5.

Rangliste der Klimasünder-Staaten (200 Jahres-Bilanz)

Quelle: Eigene Darstellung aus H Damon Matthews et al. (2014): National contributions to observed global
Warming. In: Environmental Research Letters 9/2014.

Aus der Innenperspektive brachte Kohle bisher Wirtschaftswachstum und Wohlstand. Aus der Außenperspektive sieht die Rechnung jedoch ganz anders aus, denn beim Klimawandel handelt es sich schon lange nicht mehr nur um Nebenkosten. Extreme Klimaereignisse wie Dürren und Überschwemmungen sind fast zur Normalität geworden. In Deutschland haben Forst- und Landwirtschaft schwer damit zu kämpfen, während die Grundwasserbestände sinken und die Wasserversorgung nicht mehr selbstverständlich ist. Jedes Jahr sterben weltweit mehr als 800.000 Menschen durch von Kohle verursachter Luftverschmutzung, 22.900 in der EU, hier belaufen sich nur die Gesundheitskosten zwischen 32 und 62 Milliarden Euro pro Jahr. Eine Frage ist deshalb berechtigt: Warum wird Kohle nicht so radikal und konsequent bekämpft wie das Coronavirus?

Eine Antwort könnte in der besonders starken Verflechtung zwischen Politik und Energiekonzernen liegen. Vor allem in NRW hat sie eine lange Tradition, auch die Beteiligung der Grünen an der Landesregierung von 1995 bis 2005 änderte daran wenig. 2017 sorgte ein peruanischer Kleinbauer für Schlagzeilen. Saúl Luciano Lliuya hatte den Energiekonzern RWE verklagt, mit Hilfe der Umweltaktivisten von Germanwatch. Er beschuldigte den zweitgrößten CO2-Emittenten Europas der Mitverantwortung an der Gletscherschmelze in den Anden. Durch Schmelzwasser hat sich dort ein See gebildet, dessen Überlaufen die Existenz von 120.000 Menschen bedrohen könnte. Für die Schutzmaßnahmen hat der peruanische Bauer schon Tausende Euro ausgegeben. Nun berechnete er mit Germanwatch die historische Mitschuld von RWE an den Schäden und kam zum Ergebnis, dass das Unternehmen 0,47 Prozent der Kosten für die Schutzmaßnahmen tragen müsste, nämlich 17.000 Euro. Vorerst wurde die Klage in Essen abgewiesen, doch nach der Berufung ordnete das Oberlandesgericht Hamm die Beweisaufnahme an. Zum ersten Mal wurde der kausale Zusammenhang zwischen der Energieproduktion eines Unternehmens und den globalen Klimaschäden für juristisch relevant erklärt. Wie würde sich die Energiewirtschaft ändern, wenn jeder Energiekonzern für alle Kosten des eigenen Handelns aufkommen müsste?
Bisher spielt RWE mit einer Verzögerungstaktik, um die Kläger in Bedrängnis zu bringen, denn das Verfahren fordert von ihnen finanziell einiges ab. Anwaltskosten dürften hingegen für RWE kein Problem sein. Während das Unternehmen die Profite privatisieren darf, soll die Allgemeinheit weiterhin die Kosten tragen. Anstatt die Energieunternehmen an den Klimakosten zu beteiligen, hat ihnen die Bundesregierung eine hohe finanzielle Entschädigung für den Kohleausstieg versprochen. Nur RWE soll zwei Milliarden Euro bekommen, weitere 2,4 Milliarden die anderen Energiekonzerne. Ein Geschenk für die Aktionäre, denn die Kohleverstromung wird immer unrentabler. Ohne die neue Subventionierung hätte den Konzernen vermutlich ein »Kohle-Kollaps« gedroht. RWE bekommt jedoch ein weiteres Geschenk von der Politik. Sie darf zwar den Hambacher Forst nicht roden, jedoch in der Hand halten. Im Tagebau Garzweiler II darf RWE bis 2038 baggern, ihren Interessen sollen weitere Dörfer weichen, weitere Anwohner werden im rheinischen Kohlerevier ihr Zuhause verlieren und umgesiedelt. Was die schwarz-gelbe Landesregierung NRW vom Kohleausstieg hält, hat sie im Mai gezeigt, als sie ein weiteres Kohlekraftwerk (Datteln 4) am Dortmund-Ems-Kanal ans Netz gehen ließ.
Auch in Sachsen unterhält die Politik ein gutes Verhältnis zu Energiekonzernen. Der ehemalige Regierungschef Stanislaw Tillich (CDU) wechselte im September 2019 in den Aufsichtsrat der Mitteldeutschen Braunkohlegesellschaft Mibrag. Besonders pikant dabei: Tillich war einer der Vorsitzenden der Kohlekommission, die den Beschluss der Bundesregierung zum Kohleausstieg vorbereitete. Darin sollen die ostdeutschen Kohlekraftwerke besonders lang am Netz bleiben. Die ersten acht Kraftwerksblöcke werden im Rheinland bis 2022 abgeschaltet. Weitere elf sollen zwischen 2025 und 2030 vom Netz gehen, die letzten elf zwischen 2034 und 2038.

Beim Kohleausstieg ist das letzte Wort wahrscheinlich noch nicht gesprochen, denn der Klimawandel schreitet ungebremst voran, wie die weltweiten Treibhausemissionen. Laut Copernicus-Dienst der EU lagen die Temperaturen in Europa in den vergangenen fünf Jahren zwei Grad über dem Temperaturdurchschnitt des 19. Jahrhunderts, weltweit beträgt die Erderwärmung 1,1 Grad. Damit begleichen wir erst die Klimarechnung für die Treibhausemissionen der 1980er Jahre, denn zwischen der Emission von Treibhausgasen und dem Beginn ihrer Auswirkungen auf die Erderwärmung gibt es einen Zeitverzug, der etwa 30 bis 40 Jahre beträgt (1). Der große Rest vom Klimawandel steht uns also noch bevor.

© Davide Brocchi, 05.07.2020

(1) B.U.N.D.; Brot für die Welt; Evangelischer Entwicklungsdienst (Herausgeber), 2008: Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt. Eine Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung. S. 37f.

 

 


 

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