Es gibt kein gutes Leben auf Kosten anderer. Kein gutes Leben kann fremdbestimmt sein. Das gute Leben muss nicht unbedingt neu erfunden werden. Zum Thema führte Uta Gensichen (Dresden) ein Interview mit mir…
Wie haben Sie als Kind das Leben in der Stadt erlebt bzw. darüber gedacht?
(Davide Brocchi): Ich bin auf dem Land aufgewachsen und die Stadt war mir eher fremd. Während in der Stadt der Boden aus Zement und Asphalt bestand, dominierten bei uns Wiesen und Ackerfelder, da konnte ich stundenlang spielen und mich vom Heim entfernen, ohne dass sich irgendjemand um mich sorgen musste. Diese Freiheit hatten die Kinder in der Stadt nicht. Gleichzeitig spürte ich schon damals, dass die Stadt als Leuchtturm des modernen Lebens und der Emanzipation über das Land strahlte und junge Menschen anzog.
Was ist für Sie ein gutes (und gesundes) Leben in der Stadt?
Gutes Leben ist im Gleichgewicht mit der äußeren und inneren Natur des Menschen. Gutes Leben braucht eine entsprechende Ökonomie, Fastfood gehört sicher nicht dazu. In der Dorfgemeinschaft meiner Kindheit haben die Menschen viel miteinander geteilt, sie haben weder Massenkonsum noch viel Geld gebraucht, um gut zu leben. Es brauchte dort keine Werbung, die persönliche Beziehung zwischen Produzenten und Konsumenten war die beste Garantie für die Qualität der Produkte. Doch jene Gemeinschaftsform war nicht ganz offen für die Andersartigkeit. Mit der Stadt verbinde ich heute die Suche nach weltoffenen Formen von Gemeinschaft.
Welche Dinge in der Stadt stressen?
Lärm und Zeitdruck sind vor allem in der Stadt spürbar. Doch urbaner Stress hat auch eine sozioökonomische Quelle, denn Wettbewerb und soziale Ungleichheiten verdichten sich gerade hier. Man konkurriert um Wohnungen, Karrierechancen, Status… In der Stadt leben einerseits Menschen aus der Oberschicht, andererseits Obdachlosen. Je mehr die soziale Ungleichheit zunimmt, desto größer die Angst vor dem sozialen Abstieg. Studien belegen, dass das Wohlbefinden der Menschen dort höher ist, wo die soziale Ungleichheit niedriger ist, Großzügigkeit und Solidarität stärker sind.
Wie kann man das gute Leben erreichen? Was braucht es dafür?
Zuerst indem wir verstehen, dass die Gleichung »Wohlstand = Wirtschaftswachstum« nicht stimmt, denn in der Natur gibt es kein Freibier. Jedes Wirtschaftswachstum hat Kosten, diese werden jedoch von unseren »Wohlstandsinseln“ externalisiert: auf die unteren Schichten, auf andere Länder, auf die Umwelt oder die künftigen Generationen. Es gibt aber kein gutes Leben auf Kosten anderer. Für ein gutes Leben brauchen wir weniger Massenkonsum, eine gerechte Umverteilung, mehr regionalisierte Selbstversorgung statt globalisierte Fremdversorgung, mehr Gemeinwesen statt Privatisierungen. Zweitens braucht es eine Demokratisierung der Demokratie: der Bürger als aktives Subjekt statt als passives Objekt der Politik.
Von welchen Städten kann man sich noch etwas abgucken in Hinblick auf ein „gutes Leben“?
In der Schweiz können die Bürger die Entwicklung ihrer Quartiere deutlich stärker beeinflussen, als in Deutschland. Städte wie Amsterdam und Kopenhagen zeigen, dass eine menschengerechte Stadt deutlich gesunder und attraktiver als eine autogerechte ist. Sie setzen auf geteilte und körperliche Mobilität (ÖPNV, Fahrrad, zu Fuß) statt auf Autos. Warum so viel Fläche als Parkplatz für nicht genutzte Fahrzeuge verschwenden, wenn sie viel sinnvoller genutzt werden kann?
6. Glauben Sie, dass es für jeden Menschen eine passende Stadt gibt? Falls ja, leben Sie bereits in „Ihrer“ Stadt?
Ich fühle mich dort heimisch, wo ich mitgestalte und mitgestalten darf. Jede Stadt hat das Potential so schön zu werden, dass wir am liebsten darin unseren Urlaub verbringen. Doch dafür müssen wir unsere Einstellung ändern: Wir sollten die Stadt nicht konsumieren, sondern selber machen – mit den Nachbarn gemeinsam. Wie in einer »Wohngemeinschaft« brauchen lebenswerte Quartiere selbstverwaltete Gemeinschaftsräume neben individuellen Freiräumen. Jede Stadtverwaltung sollte für ihre Bürger da sein – statt umgekehrt.
© 2018, Davide Brocchi und Uta Gensichen.
Zum Thema
- Buch Urbane Transformation. Zum guten Leben in der eigenen Stadt. Bad Homburg: VAS-Verlag, 2017 [Vollständige PDF-Version]
Gerd und Christine Spranger
Vielen Dank für Ihren interessanten Beitrag. Wir alle wünschen uns doch ein gutes Leben und sollten es auch unseren nächsten gönnen. Ein gutes Leben bedeutet für uns, ein selbst bestimmtes, freies und erfülltes Leben zu führen. Das umsetzen zu können setzt voraus, sich selbst gut kennengelernt zu haben und zu wissen, was man vom eigenen Leben erwartet.
Wie muss unser Leben aussehen, damit es zu uns passt? Die eigene Lebensgestaltung ist für viele junge und auch noch ältere Menschen eine echte Herausforderung. Für manche so anstrengend, dass sie es vermeiden, sich Gedanken darüber zu machen.
Und dennoch gibt es doch einige gute Tipps, die jeder für sich mitnehmen kann, wenn er ein gutes Leben führen möchte. Wer sich bewusst ist, dass sein eigenes Denken ausschlaggebend dafür ist, wie er lebt, ist schon ein schönes Stück weiter gekommen. Die eigene Gedankenwelt – wie sie auch immer ist – manifestiert sich in der Lebensrealität.
Wir erleben unser eigenes Leben ganz subjektiv. Unsere Erfahrungswelt ist ausschlaggebend dafür. Wer sich als Opfer sieht, lebt wahrscheinlich wie eines.
Was ist die Quelle für viele Probleme im Leben? Unserer Erfahrung nach ein mangelndes Selbstwertgefühl und uns behindernde, einschränkende Glaubenssätze, die jeder von uns verinnerlicht seit seiner Kindheit. Wer denkt, Arbeit bedeutet immer Stress, kann wenig Spaß dabei entdecken, etwas zu schaffen. Wer denkt, das Leben ist zu hart, wird ebenfalls wenig Leichtigkeit in seinem Dasein finden.
Ein gutes Leben können wir führen, wenn wir uns trauen, auf unsere innere Stimme zu hören und ihr folgen. Denn dann folgen wir unserer eigenen Bestimmung. Diese zu entdecken bringt in die eigene Mitte und lässt das Leben sich sinnvoll anfühlen. Und das ist es, was sich jeder wünscht: Ein sinnvolles, erfülltes Leben zu führen.